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Bizarre

Analysen des GEGENSTANDPUNKTs zu politischen und gesellschaftlichen Themen

Sendende(r): Louise Salome

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Live:
3. Sonntag 18 Uhr

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4. Dienstag 9 Uhr (nur im Internet)
4. Donnerstag 12 Uhr

Sendungen

Sonntag, 21.02.2016


Acht Thesen zu „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“
Arian Schiffer-Nasserie
 
1.
Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund von materieller Existenznot, Umweltzerstörung und Krieg. Das ist ganz und gar kein neues Phänomen. „Flüchtlingskrise“ in diesem brutalen Sinn herrscht vielmehr seit über 60 Jahren und gehört zur ökonomischen und politischen Verfassung der herrschenden Weltordnung offenbar systematisch dazu. Davon jedenfalls gehen die maßgeblichen Staaten ganz selbstverständlich aus, wenn sie – bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg – in Form der Genfer Flüchtlingskonvention und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR – den künftigen zwischenstaatlichen Umgang mit dem menschlichen Elend ihrer internationalen Konkurrenz verabreden. Und daran hat sich 25 Jahre nach dem Kalten Krieg und dem Sieg über das real-sozialistische „Reich des Bösen“ nichts verbessert – im Gegenteil!
 
2.
Dass viele der Flüchtenden versuchen, Europa und besonders die wenigen erfolgreichen Staaten
Deutschland, Frankreich, England und Schweden zu erreichen, ist ebenfalls seit Jahren so. Die Regierungen der Bundesrepublik begegneten der unerwünschten Zuwanderung seit den 1990er Jahren vor allem mit einem migrations- und asylpolitischen Maßnahmenbündel aus Abschreckung,
Abwehr und Abschottung. Und sie setzten ihre flüchtlingspolitischen Ansprüche europaweit
so kompromisslos durch, dass das Staatenbündnis seitdem auch den Beinamen „Festung“ trägt.
Insbesondere mit der so genannten Dublin-Verordnung verpflichtet die BRD die Länder an der
Süd- und Ostgrenze der EU auf die Registrierung, Internierung und Rücknahme jener Flüchtenden, die dort zuerst das Hoheitsgebiet des Bündnisses betreten. Die beabsichtigte Folge: Deutschland wälzt erstens die humanitären Kosten seiner weltweiten Erfolge auf die europäischen „Partner“ ab, umgibt sich zweitens mit „sicheren Drittstaaten“ innerhalb und außerhalb der EU und stiftet so drittens bei diesen „Transitländern“ das ureigene Interesse an einer möglichst effektiven Grenzsicherung gegen Flüchtende, die ja ursprünglich nicht zu ihnen, sondern nach Nord- oder Westeuropa wollten. Die unvermeidliche Konsequenz sind über 30.000 Tote und hoffnungslos überfüllte Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen in den letzten 20 Jahren. Das alles war und ist nach Auffassung deutscher Führungskräfte in Politik und Presse keine Flüchtlingskrise. Vielmehr gilt bis zum Spätsommer 2015 in der Bundesregierung die Sprachregelung, dass die Situation der Flüchtenden zwar bedauerlich, die Ursachen aber entweder bei „kriminellen Schleuserbanden“, welche die Menschen „mit falschen Versprechen aufs Meer locken“, oder aber in „Misswirtschaft, Korruption, Terror und Despotie“ der Herkunftsländer zu suchen seien – jedenfalls nichts mit der westlichen Weltordnung, dem Weltmarkt und der deutschen Rolle darin zu tun haben. Außerdem gebe es „nun mal“ europäische Regelungen beim Umgang mit den Flüchtenden (Dublin) und daran habe sich jedes Land zu halten. Deutschland könne jedenfalls beim besten Willen nicht „für das Elend der gesamten Welt“ die Verantwortung tragen. Das alles war und ist nach Auffassung der Bundesregierung keine Flüchtlingskrise – die gibt es bekanntlich erst seit dem Spätsommer 2015. In diesem Jahr zeichnet sich nämlich immer stärker ab, dass die Flüchtenden es trotz aller Abwehrmaßnahmen in immer größerer Zahl schaffen, die EU lebend zu erreichen. Und nicht nur das: Sie kommen nach Zentraleuropa und wollen vorzugsweise nach Deutschland. Seitdem (!) spricht die Bundesregierung von einer Flüchtlingskrise und hat die Zahl von 800.000 bis eine Million zu erwartenden Flüchtlingen für dieses Jahr in die Welt gesetzt. Die aktuell ausgerufene „Flüchtlingskrise“ ist also nicht mit dem Leid der Flüchtenden zu verwechseln – in ihr geht es nicht um die Probleme der Flüchtenden, sondern um die Probleme der BRD mit den Flüchtenden.
 
3.
Dass die Opfer der ökonomischen Weltmarkterfolge Deutschlands und der westlichen Weltordnung durch die EU-Außenstaaten und das Dublin-Verfahren bisher zuverlässig von der Mitte Europas
(Deutschland, Frankreich) ferngehalten wurden bzw. schnell zurückgeschickt werden konnten,
funktioniert offenbar nicht mehr. In diesem Sinne
ist die bisherige Flüchtlingspolitik aus Sicht der
deutschen Regierung „gescheitert“ (Angela Merkel).
Aber warum?
Zunächst einmal sind die vielen Flüchtenden weltweit
Ausdruck der politischen und ökonomischen
Weltlage. Immer neue Rekorde der Flüchtlingszahl
(2014 waren es global 59,5 Millionen) zeugen
von der zunehmenden Ruinierung weiter Weltgegenden.
 
a) Herkunftsländer
In vielen Herkunftsstaaten Afrikas und Asiens hat
der Einbezug der ehemaligen Kolonien in den
Weltmarkt die Lebensgrundlagen großer Bevölkerungsteile
zerstört. Weder die kleinbäuerliche
Landwirtschaft oder Fischerei noch die wenigen
Industrie-Unternehmen sind der Konkurrenz auf
dem Weltmarkt dauerhaft gewachsen; oft werden
die bisherigen Bewohner_innen und Nutzer_innen
des Landes auch schlicht vertrieben, weil Plantagenwirtschaft,
Rohstoffgewinnung oder Tourismusindustrie
für ihre Regierungen lohnender sind
als nur ihr Überleben. In Afrika südlich der Sahara
zählt die UNO gegenwärtig 206 Millionen Hungernde.
Zu den ökonomischen Gründen für Flucht
treten politische: Die in den Drittweltstaaten auftretenden
Verteilungskämpfe um die wenigen
Reichtumsquellen, die es in den Ländern gibt, machen
Korruption und politische Machtkämpfe zu
einem Dauerzustand; oft entspringen daraus andauernde
Bürgerkriege, in denen die Menschen
auf Grundlage ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten
um die verbleibenden Ressourcen kämpfen.
Korruption, Bürgerkriege und Vertreibungen
in den ehemaligen Ländern der Dritten Welt sind
also nicht Ursache, sondern Folge der alternativlosen
Zurichtung der Dritten Welt für einen Weltmarkt,
aus dem die westlichen Staaten ihren Nutzen
ziehen. Ähnliches gilt für die meisten Länder
des früheren Ostblocks (Beispiel Albanien).
Zusätzlich haben die Weltordnungskriege des
Westens den Westbalkan, den Nahen und Mittleren
Osten aufgemischt (Kosovo, Irak, Afghanistan).
Die westlichen Interventionen während des
„arabischen Frühlings“ haben dazu geführt, dass
in Staaten wie Libyen und Syrien das staatliche
Gewaltmonopol zerfällt und die mit westlichen
Waffen ausgerüsteten Islamist_innen die Lebensgrundlagen von Millionen zerstören. Bei all dem war und ist Deutschland dabei. Und das nicht unter „ferner liefen“, sondern als prominenter
Nutznießer einer Weltordnung, welche die
Freiheit des Geschäfts zum globalen Prinzip gemacht
hat: Deutsche Unternehmen verkaufen ihre
Waren in den EU-Staaten und in die ganze Welt,
verschaffen sich die interessanten Rohstoffe (was
viele Menschen von ihren Äckern verdrängt) und
Arbeitskräfte für ihr Geschäft und bauen weltweit
Fabriken, um die Billiglöhne und Märkte anderer
Länder für sich auszunutzen.
Mit seinen Exporten, die u. a. deshalb so konkurrenzfähig
sind, weil die deutschen Löhne massiv
gesenkt wurden (Hartz IV und Niedriglohnsektor),
schädigt Deutschland andere Staaten bis zum
Ruin. Dafür braucht es die entsprechende Absicherung
der nationalen Interessen – freie Handelswege,
sichere Schiffsrouten, Bekämpfung
widerspenstiger Staaten bzw. „Terrorist_innen“.
Ob Deutschland dabei direkt agiert, ob es von seinen
westlichen NATO-Partnern und ihren Weltordnungsaktionen
profitiert oder ob es als drittgrößter
Waffenexporteur der Welt genehme Kräfte
vor Ort beliefert, die globalen Kräfteverhältnisse
dadurch in seinem Sinne verändert und für sich
schießen lässt (Bsp. Jemen) – all das sind die Mittel
der deutschen Außenpolitik, die je nach Nutzenerwägung
gewählt und dann politmoralisch
begründet werden.
 
b) Anrainerstaaten und Transitländer
Anrainerstaaten dieser Kriege wie Iran, Jordanien
und Libanon tragen bisher die Hauptlast der
menschlichen Folgekosten. Zusammen mit der
Türkei, Pakistan und Äthiopien nehmen sie etwa
46% aller weltweit Flüchtenden auf. Insgesamt finden
86% aller Menschen auf der Flucht Aufnahme
in anderen so genannten Entwicklungsländern.
Libanon und Jordanien sind angesichts ihrer eigenen
ökonomischen Ruinierung und aufgrund
mangelnder finanzieller Unterstützung aus anderen
Staaten (vgl. UN-Bericht) immer weniger dazu
in der Lage, die Flüchtlinge auch nur zu ernähren,
geschweige denn, bessere Unterbringung zu organisieren
und den Kindern Schulunterricht zu gewährleisten.
Deshalb versuchen viele nach Europa
weiter zu fliehen und vergrößern so zunächst
einmal die Zahl jener, die über die Türkei in die
EU wollen.
 
c) Türkei
Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan
und ganz besonders aus Syrien leben am
Rande der Städte oder in Lagern der Türkei. Von
dort aus werden Kämpfer für Armeen rekrutiert,
mit denen die Türkei, die USA und andere Staaten
die Kräfteverhältnisse im Irak und im syrischen
Bürgerkrieg in ihrem Sinne beeinflussen
wollen. Vor allem aber sorgt die Türkei so dafür,
dass die Vertriebenen „nah an ihrer Heimat“ bleiben
und nicht weiter nach Westen fliehen. Um
diese Funktion sicher zu stellen hat die EU bereits
im Frühjahr 2014 mit der Türkei ein Abkommen
geschlossen, dass türkischen Bürger_innen (Visafreiheit)
und Unternehmen (Zollerleichterungen)
einen erleichterten Zugang zur EU verspricht,
wenn die Türkei im Gegenzug Flüchtlinge an der
Weiterreise nach Westen hindert. Allerdings beobachtet
die EU vom Standpunkt ihrer eigenen
geostrategischen Interessen zugleich die regionale
Eigenmächtigkeit der Türkei unter der AKPFührung
Erdoğans mit großer Skepsis und handelt
dementsprechend. Als Antwort auf bzw. als
strategisches Instrument im diplomatischen Konflikt
mit der EU instrumentalisiert die AKP-Regierung
in Ankara die Flüchtenden und lässt sie seit
Sommer 2015 ungehindert über die Ägäis
weiterziehen. Die Opfer der weltweiten Konkur
renz um Geld und Gewalt bekommen darüber eine
weitere Funktion. Sie werden zum Druckmittel
im bilateralen Machtkampf zwischen EU und Türkei.
In der Folge schaffen es immer mehr Flüchtende
über die Ägäis lebend in die EU, vor allem
zunächst nach Griechenland.
 
d) Griechenland, Italien, Ungarn etc.
Gemäß der Dublin-Verträge (s. o.) hat Athen eigentlich
die Aufgabe, jeden Flüchtling zu registrieren,
ein Asylverfahren durchzuführen, ihn_sie abzuschieben
oder, sofern er_sie aus humanitären
Gründen nicht zurückgeschoben werden kann,
ihn_sie als „Geduldete_n“ zu behalten. Allerdings
hat die ökonomische Konkurrenz innerhalb des
europäischen Binnenmarktes bzw. hat Deutschland
als dessen größter Nutznießer viele süd- und
osteuropäische Länder ebenfalls weitgehend ökonomisch
ruiniert. In der Folge der Euro-Krise und
der Brüsseler Sparvorgaben zur Rettung der Gemeinschaftswährung
sind einige dieser Staaten
nicht mehr fähig oder willens, die Flüchtlinge, die
immer massenhafter anlanden, im Sinne der von
Deutschland gewünschten Dublin-Regelung zu
verwalten. Dies gilt besonders für Griechenland.
Nachdem die neu gewählte Syriza-Regierung
bereits im Frühsommer 2015 erfolglos versucht
hatte, gegen den Willen Deutschlands eine Neuverhandlung
der Sparvorgaben zu erreichen, hat
sie die Registrierung von Flüchtlingen weitgehend
eingestellt und lässt diese ziehen. Damit wird ein
Dominoeffekt auf der so entstandenen „Balkanroute“
(Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Ungarn
...) in Gang gesetzt: Die betroffenen Staaten handeln
dann jeweils ähnlich.
Auch für Italien gilt bereits seit 2012, als nach der
Zerstörung des libyschen Staates immer mehr
Flüchtende Lampedusa (Italien) erreichten, Vergleichbares.
So hat Rom schon im Herbst 2013
nach der allgemeinen Aufregung über die Flüchtlingskatastrophe
vor Lampedusa versucht, in
Form einer Quotenregelung eine Verteilung der
Flüchtlinge in die europäischen Staaten anzuregen
bzw. wenigstens finanzielle Unterstützung für
seine Rolle bei der Flüchtlingsabwehr zu bekommen.
Das wurde ihm verweigert, insbesondere
durch die deutsche Regierung. Italien hatte damals
aus Protest gegen die EU-Politik Deutschlands
einige Flüchtlinge gewissermaßen als lebende
Grußbotschaft mit Reisedokumenten und
Fahrkarten nach Hamburg ausgestattet ... (Vgl.
„Lampedusa in Hamburg“)
An der europäischen Flüchtlingskrise wird insofern
deutlich, dass viele der beteiligten Staaten in
der supranationalen Verfassung des Bündnisses
und dem damit verbundenen Souveränitätsverzicht
in Zeiten der Krise und unter den Bedingungen
eines von Deutschland erzwungenen Sparprogramms
keinen Nutzen mehr für sich erblicken
und sich nicht weiter von der deutschen Hegemonialmacht
zu einer Politik nötigen lassen wollen,
die ihnen nur noch weitere Belastungen auferlegt.
Die Flüchtenden werden darüber also auch noch
zum Material eines innereuropäischen Machtkampfes
und kommen ironischerweise gerade dadurch
dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum
der EU immer näher.
Schlussfolgerung: Die Bundesregierung ist nicht
einfach „mit Flüchtenden konfrontiert“, mit deren
Zustandekommen sie nichts zu tun hat. Die Flüchtenden
sind vielmehr Produkt der ökonomischen
und politischen Interessen der erfolgreichen Staaten,
nicht zuletzt der Bundesrepublik. Und sie werden
zum Mittel in den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.
 
4.
Deutschland ist dadurch in bisher ungekannter
Zahl mit Flüchtenden konfrontiert, die über Ungarn
und Österreich die deutschen Grenzen erreichen.
Zum allgemeinen Erstaunen ihrer Bürger_
innen vollzieht die Bundeskanzlerin in der Folge
eine beachtliche Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik
und nimmt seit Ende August 2015 die ungeliebten
Elendsgestalten, die sie bisher an die
EU-Außengrenzen verbannen wollte, auf. Weder
schließt sie ihre Grenzen zum Schengen-Raum,
noch besteht sie kompromisslos auf Einhaltung
der Dublin-Verordnung und schon gar nicht setzt
sie ihre Macht ein, um die Einwander_innen gewaltsam
wieder außer Landes zu schaffen. An die
Stelle der Abschottungspolitik setzt sie nun eine
humanitäre Aufnahmephase und ruft ihre Bürger_
innen gleichsam zu einer „Willkommenskultur“
auf. Auch wenn es die meisten Bundesbürger_innen
kaum fassen können, weil sie entweder als
nationalistische Patriot_innen im Handeln der Regierung
glatten „Volksverrat“ sehen oder als patriotische
Humanist_innen von der ungeahnten Güte
ihres Vaterlandes gerührt sind – die Regierenden
verfolgen realpolitischere Ziele mit ihrer flüchtlingspolitischen
Wende und bleiben der Staatsräson
der Bundesrepublik dabei ganz treu.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die flüchtlingspolitische
Wende in der staatlichen Feststellung, dass
die Fortsetzung der bisherigen Verfahrensweise
mit illegal Eingereisten immer weniger funktioniert.
Die Alternative, die Schließung der deutschen
Grenzen, wie es Ungarn und andere Staaten zeitweise
mit Hinweis auf die Dublin-Verordnung
praktizieren und wie es selbsternannte Staatsschützer_
innen nicht nur in Heidenau auch für
Deutschland massenhaft fordern, kommt für die
regierenden Patriot_innen auf keinen Fall in Frage,
gilt sogar als „undeutsch“ (Vizekanzler Gabriel).
Weil die nationale Grenzschließung nämlich
gleichsam ein Ende des „Schengen-Abkommens“
und der europäischen Freizügigkeit im Personenund
Warenverkehr bedeuten würde, ist man in
Berlin besorgt, dass der Rückfall in die nationale
Grenzsicherung eine der wichtigsten Bedingungen
für den bisherigen und künftigen Aufstieg
Deutschlands zur führenden (Welt)wirtschaftsmacht
in Europa gefährdet. In diesem Sinne ist
die „Flüchtlingskrise“ für Deutschland zugleich eine
EU-Krise, die vitale Interessen tangiert. Für
Deutschland steht also viel mehr auf dem Spiel
als das Überleben der Flüchtenden; nämlich die
Bewahrung des schranken- und grenzenlosen
EU-Binnenmarktes als Bedingung der weiteren
Kapitalakkumulation deutscher Unternehmen und
der Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa.
Aus einem ähnlich gelagerten Grund kommt auch
die Abschiebung der Flüchtlinge aus Syrien und
Irak in ihre Herkunftsländer für die Bundesrepublik
nicht in Frage. Denn damit würde Deutschland gegen
die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen,
der das Land 1951 beigetreten ist. Die Vertragsstaaten
gehen darin davon aus, dass Kriege und
Bürgerkriege erstens zu ihrer Weltordnung gehören
und zweitens, dass dadurch stets Flüchtlinge
heimatlos gemacht werden. Ferner gehen sie drittens
davon aus, dass weder sie selbst noch dritte
Staaten diese Menschen haben wollen, d. h. sie
werden als „Last“ der Auseinandersetzungen zwischen
den Staaten begriffen. Sie regeln dieses
„Faktum“ so, dass sie Flüchtlingen, die ihr Staatsgebiet
erreichen, den Schutz ihres Lebens garantieren,
sie insbesondere nicht in ihre Heimatländer
zurückschicken, sofern dort ihr Leben bedroht ist,
sie aber auch nicht in dritte Staaten weiter schieben.
Das ist der Kerngehalt des humanitären
Flüchtlingsrechts. Die Genfer Konvention regelt
also vergleichbar zum staatlichen Umgang mit
dem durch die Marktwirtschaft produzierten Elend
im Innern (Obdachlose, Drogenabhängige usw.)
den weltordnungspolitischen Umgang mit den „unvermeidlichen
Opfern“ der Weltgeschäfte und
Waffengänge im internationalen Verkehr. Sie ist
damit Teil der allgemeinen Völkerrechtsverpflichtungen,
die die modernen Staaten miteinander
eingehen, um auf dieser Grundlage ihre ökonomischen
und politischen Interessen auf der Welt
konkurrierend gegeneinander wahrzunehmen. Ein
Land wie Deutschland will an dieser Weltordnung,
die ihm nützt, teilhaben. Diese Teilhabe wegen
der jetzt anfallenden Kosten für Flüchtlinge zu
kündigen, ist daher keine Option. Im Gegenteil:
Deutschland will, dass die Flüchtlinge, die wegen
des dargelegten Zustands der Weltordnung und
Deutschlands Rolle darin in immer größerer Zahl
anfallen, sozusagen „geordnet“ verwaltet werden
und fordert deshalb eine modernisierte Weltelendsverwaltung.
 
5.
Dazu geht die Bundesregierung mit gutem Beispiel
voran, d. h. sie entschließt sich zu einer humanitären
Aufnahme der Flüchtlinge unter Inkaufnahme
der Kosten hierfür und sie präsentiert ihre
neue deutsche „Willkommenskultur“ als alternativlose
und vor allem alternativlos gute Antwort auf
die „Flüchtlingskrise“. Auf dieser Basis will sie die
aus ihrer Sicht in Unordnung geratene und damit
für sie (!) schädliche Praxis der Flüchtlingsfrage
und des EU-Bündnisses neu angehen – in
Deutschland, innerhalb Europas und mit Blick auf
die beteiligten außereuropäischen Staaten weltweit.
Innen- wie außenpolitisch versucht sie dabei
aus ihrer Not eine Tugend zu machen, mit der sie
fordernd auftritt. ,Stärker aus der Krise herauskommen’
– der Leitspruch, den sich die Kanzlerin
für die Bewältigung der Finanzkrise gesetzt hat,
soll auch in diesem Fall zum Zug kommen. Dafür
setzt sie einiges in Bewegung.
6.
Außenpolitisch leitet die Bundesregierung Folgerungen
aus ihrem Problem mit den Flüchtenden
ab, die ihrer Stellung als europäischer Führungsund
globaler Ordnungsmacht entsprechen. Sie
verlangt von anderen Staaten in und außerhalb
der EU, dass sie sich an der Lösung des von
Deutschland ausgerufenen Problems beteiligen.
Und sie gibt sich neue Aufträge im Namen des
„Weltflüchtlingsproblems“.
Deutschland will erstens die gesamte EU zu neuer
Einigkeit zwingen – zunächst, um die europäische
Flüchtlingspolitik wieder in geordnete Bahnen
zu bringen. Dazu gehört eine gewisse Selbstkritik
in der Frage, dass man die Mittelmeeranrainer
bisher mit dem Problem „zu sehr allein
gelassen“ hat. Jetzt soll eine gemeinsame Aufnahmeregelung
gelten – auch gegen das Widerstreben
vor allem der östlichen EU-Staaten. Als
Wiederbelebung der Dublin-Regelung sollen „Hotspots“
in Griechenland, Italien und Bulgarien eingerichtet
werden, die durch die EU finanziert und
teilweise auch mit EU-Personal ausgestattet werden.
Damit entstehen zentrale Registrierungsund
Aufnahmezentren, von denen aus die Flüchtlinge
dann europaweit weiterverteilt werden und
mit denen verhindert wird, dass die betreffenden
Staaten die „gemeinsamen Beschlüsse“ der
deutsch dominierten Union durch eigenmächtige
Praktiken an den Außengrenzen unterlaufen.
Zweitens verhandelt Deutschland aber auch eine
prinzipielle Frage seines europäischen Projekts.
Am Zustandekommen der jetzigen Problemlage
war die Renitenz einiger EU-Außenstaaten mitbeteiligt;
bei den Versuchen, die Lage mit Quoten
neu zu regeln, stellen sich nun insbesondere die
osteuropäischen Länder quer. Und auch Frankreichs
Regierung macht der deutschen Diplomatie
deutlich, dass sie nicht gewillt ist, die deutschen
Definitionen des Flüchtlingsproblems zu übernehmen,
sondern ihre Prioritäten mit Berufung auf die
Attentate von Paris ganz anders setzt, nämlich im
Kampf gegen den IS, und dafür Deutschlands Solidarität
verlangt. Merkels Vorstellung davon, dass
Deutschland Europa inzwischen so weit dominiert,
dass seine Vorstellungen wie von selbst auf Zustimmung
treffen, weil sich alle europäischen
Partnerländer abhängig wissen vom wirtschaftlich
mächtigsten Land, erweisen sich in der Flüchtlingsfrage,
bei der es naturgemäß um die Verteilung
von Lasten geht, insofern bisher als haltlos.
Was bei der Bewältigung der Euro-Krise aus
deutscher Sicht funktioniert hat – die anderen
Staaten beugen sich der deutschen Austeritäts-
Politik, weil sich tatsächlich alle um den Bestand
des Euro-Kredits sorgen – wird bei der Flüchtlingsfrage
ganz im Gegenteil von den unzufriedenen
Staaten in Europa genutzt, um Deutschland
buchstäblich Grenzen aufzuzeigen und an
den deutschen Anträgen die Frage zu wälzen, ob
sich ein souveräner Staat etwas aufzwingen lassen
muss, was für ihn nicht nützlich ist.
Drittens sollen Nicht-EU-Länder an den EU-Außengrenzen
ihre Funktion, die Flüchtlinge von Europa
fernzuhalten, wieder besser erfüllen. Das
zielt ganz besonders auf die Türkei, mit der die
Bundesrepublik zunächst bilateral und dann in
Brüssel als EU deshalb ein neues Abkommen geschlossen
hat. Sie erkennt damit diplomatisch die
Bedeutung der Erdoğan-Regierung an, erklärt die
Türkei trotz ihres neuen Kriegs gegen die Kurd_
innen und gegen Syrien zu einem sicheren
Herkunftsland, zahlt der Türkei mehrere Milliarden
für ihre Flüchtlingslager und führt endlich die
schon lange versprochene Visafreiheit ein.
Viertens übt die Bundesregierung auch eine gewisse
Selbstkritik bei der internationalen Flüchtlingshilfe,
deren Finanzierung man über Jahre
fahrlässig vernachlässigt habe. Künftig sollen die
Aufnahmeländer im Nahen Osten mehr Geld bekommen,
damit sie die unerwünschten Elendsgestalten
„heimatnah“ aufbewahren.
Unter der Parole „Fluchtursachen vor Ort bekämpfen“
folgert die deutsche Regierung fünftens, dass
mehr außenpolitischer Einsatz Deutschlands in aller
Welt nötig sei. Den USA wird (zumindest verklausuliert)
vorgehalten, dass ihre Außenpolitik im
Nahen Osten für Deutschland mehr Unordnung
als Ordnung, und damit vor allem Flüchtlinge produziert.
Der deutsche Außenminister will die an
den nahöstlichen Kriegen beteiligten Regionalmächte
Saudi-Arabien und Iran sowie Kuwait und
Katar beeinflussen. Und explizit behält sich
Deutschland auch militärische Ordnungseinsätze
als Option vor und sieht in der nationalen „Flüchtlingskrise“
die Chance, ihr „friedensverwöhntes“
und tendenziell flüchtlingsfeindliches Volk endlich
für weitere Auslandeinsätze der Bundeswehr zu
mobilisieren.
Schlussfolgerung: „Hilfe für Flüchtlinge“ ist für
Deutschland also ein Auftrag zu mehr deutscher
Einflussnahme in der EU wie in der ganzen Welt.
 
7.
Im Innern mobilisiert die Bundesregierung beträchtliche
Mittel zur Registrierung, Verteilung und
Unterbringung der Flüchtenden. Mit der Reform
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
soll die Integration der Aufgenommenen produktiv
bewältigt werden, was als nationaler Kraftakt besonderer
Art – vergleichbar der Wiedervereinigung
– vorgestellt wird. Merkels „Wir schaffen
das“ nimmt die ganze Nation, von der Bürgermeisterin,
der Polizei bis hin zu den vielen ehrenamtlichen
Helfer_innen dafür in Haftung und betont,
dass Deutschland so reich und so gut
organisiert sei, dass es diesen Kraftakt mit Bravour
meistern werde.
Dabei werden die Neuankömmlinge nicht nur als
die finanzpolitische Belastung in den Blick genommen,
die sie zunächst einmal sind. Vielmehr betrachtet
man die Zuwandernden als Potential für
die Volkswirtschaft und ihre globalen Ambitionen.
Angesichts des unternehmerischen Bedarfs an
motivierten und anspruchslosen Facharbeiter_innen,
Pflegekräften oder gar Hochqualifizierten
präsentieren Politik, Presse und Arbeitgeberverbände
„ihre“ Flüchtlinge bereits als künftigen Zugewinn
fürs nationale Wachstum und Chance zur
weiteren Unterschichtung des deutschen Arbeitsmarktes.
Die zusammengelegte Leitung des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge durch den
Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen
Weise, soll das institutionell gewährleisten.
Ergänzend dazu, also gerade nicht im Widerspruch
zur Willkommenskultur, verschärft die Bundesregierung
ihr gesetzliches Instrumentarium zur
Abwehr und Abschreckung unerwünschter Zuwanderung.
Mit einem Paket parlamentarisch
durchgepeitschter Neuregelungen werden die
Asylverfahren künftig beschleunigt, Widerspruchsmöglichkeiten
gegen Abschiebungen etc. stark
eingeschränkt. Im gleichen Zuge werden Albanien,
Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten
erklärt. Nach Afghanistan soll künftig
vermehrt abgeschoben werden. Asylbewerber_innen mit „geringer Bleibeperspektive“ können bis zu sechs Monaten in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden, erhalten ausschließlich Sachleistungen, unterliegen dort einem Arbeitsverbot und strenger Residenzpflicht, d. h. die dürfen sich nur in einem bestimmten Landkreis oder Regierungsbezirk bewegen. Verstöße werden mit drastischen Leistungskürzungen und bei Wiederholung mit sofortiger Ausweisung geahndet. Der Familiennachzug wird stark eingeschränkt. „Geduldete“ müssen mit Leistungskürzungen um 40% unter das bisherige Existenzminimum rechnen. So geht die gewünschte Sortierung von Asylberechtigten und unerwünschten „Armuts-flüchtlingen“ zukünftig schneller, ohne letzteren durch „Fehlanreize“ Hoffnungen auf ein (Über)Leben in Deutschland zu machen. Schlussfolgerung: Die zeitweise Aufnahme der Flüchtenden, Versuche, einen Teil von ihnen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, und die gleichzeitige Verschärfung der Asylverfahren, des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Bemühungen, die Außengrenzen wieder effektiv dicht zu machen, sind also kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Sie bilden ergänzende Bestandteile einer Bereinigung der ein-ge-tre-tenen Mängel und vorwärts denkenden Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik im Inte-resse der Bundesrepublik.
 
8.
Die realpolitisch vollzogene Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik bietet auf der ideologischen Ebene den öffentlich-rechtlichen und politischen Meinungsmacher_innen einerseits viel Kollateralnutzen bei der Definition eines modernen, zeitgemäßen Patriotismus und erfordert andererseits aber auch viel „Umdenken“ beim aufgeregten Volk, das sich die neue „Willkommenskultur“ zu eigen machen soll. Deutschland als einig Helferland setzt die Nation nämlich erstens ganz im Unterschied zur jüngsten Vergangenheit in ein schönes Licht. Immerhin beweisen die Verfolgten doch mit ihrem „Germany, Germany“, welcher Beliebtheit sich die eigene Nation in der Welt erfreut; auf der Ebene der politischen Imagepflege ein nicht zu verachtender Nebeneffekt. Die darüber mobilisierten, humanistisch gestimmten Teile des Volkes beklatschen ihre Flüchtlinge auf Bahnhöfen, spenden Lebensmittel und Altkleider und sind von sich als gute Helfer_innen und von ihrem Land begeistert. Neben einem neuen nationalen „Wir-Gefühl“ nach
dem Motto „Deutschland hilft“ (Bild-Zeitung) kann die politische Führung so zweitens einen Teil der Kosten ihrer neuen Politik auf das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft abwälzen. Angesichts der neuen deutschen Welle von Hilfsbereitschaft und Weltoffenheit der globalisierten Nation kann die Regierung drittens die Zustimmung ihres Volkes für all jene (oben beschriebenen) Maßnahmen beanspruchen, die der Einschränkung des Asylrechts im Innern und der Zurichtung anderer Staaten als Flüchtlingslager dienen. Ein weiterer Kollateralnutzen liegt viertens darin, dass angesichts des von der Presse nun ins Bild gerückten Elends der Flüchtenden die Armut in Deutschland als vergleichsweise luxuriös und Protest dagegen als unanständig erscheinen soll. Hartz IV gilt schließlich als Paradiesvorstellung von Hunderttausenden, die dafür härteste Opfer in Kauf nehmen – wer will sich also hierzulande noch dagegen wehren? Vor allem anderen aber wendet sich die offizielle deutsche Willkommenskultur gegen die verbreitete Ausländer- bzw. genauer Flüchtlings-feindlich-keit in den Reihen des eigenen Volkes. Mit Ausnahme einiger unverbesserlicher Rechtsextremer „akzeptieren“ diese Deutschen zwar inzwischen durch viel Umerziehungsarbeit und einigen Druck weitgehend, dass die Zuwanderung von Ausländer_innen im Prinzip unverzichtbar für den Standort Deutschland bzw. für dessen Wirtschaft ist, weil diese nun mal Saisonarbeiter_in, billige und willige Fachkräfte, Hochqualifizierte etc. braucht. Die erzwungene Toleranz gegenüber Menschen, die zwar keine Volksgenoss_innen aber immerhin so genannte „Auch-Menschen“ sind, weil sie der Volkswirtschaft dienen, will aber bei Geflüchteten nicht greifen, weil deren Zuwanderung ja gerade nicht wirtschaftspolitisch eindeutig nützlich ist. Die überlebenden Opfer des Kampfes um Weltmarkt und Weltmacht bilden als Flüchtlinge vielmehr die ärmste und ohnmächtigste Untergruppe der Ausländer_innen, mit denen weder Staat noch Kapital so recht etwas anzufangen wissen. Der prinzipielle Grundsatzvorbehalt gegenüber Ausländer_innen konzentriert sich daher in einem „toleranten Zuwanderungsland“, das von der Europäisierung und Globalisierung profitiert und deshalb den „dumpfen Rassismus“ gegen nützliche Zuwandernde verurteilt, zunehmend auf Flüchtlinge. Das liegt daran, dass dieses Volk unerschütterlich von dem Dogma überzeugt ist, dass die Vermehrung von Geld durch die Ausbeutung von Lohnarbeit nicht der endgültige Zweck der kapitalistischen Konkurrenz, sondern diese ein zumindest „eigentlich“ sinnreicher Mechanismus zur bestmöglichen wirtschaftlichen Versorgung letztlich aller Mitglieder der Volks-Wirtschaft, also auch ihrer persönlichen Interessen, sei. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d. h. die materiell unbefriedigenden Resultate für die Mehrheit (Zeitnot, Überbeanspruchung, gesundheitsbelastende Produkte, Niedriglöhne, steigende Mieten, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit, Armut, Krisen usw.) werden gerade nicht als unvermeidliche Konsequenzen des Kapitalismus begriffen, sondern als vermeidbare Fehlleistungen der Akteure gedeutet, die auf gemeinwohl-schädliches, d. h. Letztlich volksfeindliches Verhalten zurückzuführen seien. Statt einer ökonomischen Ursachenanalyse geht es für die Idealist_innen der Marktwirtschaft also permanent um die Suche nach Schuldigen. Und wer sucht, der findet: Im eigenen Volk identifiziert man Bankster, Pleite-Manager_innen, Betrüger_innen und arbeitsscheue Hartz-IV-Empfänger, die den_die ehrliche_n Volksgenoss_in um seinen wohlverdienten Lohn bringen. Hinzu kommt zweitens das nicht weniger feste Dogma, dass dieses Volk aller Unterschiede und Gegensätze zum Trotz seine tiefere nationale Einheit in einer gemeinsamen Kultur, in geteilten Werten, Sitten etc. habe, welche die Zugehörigkeit zum geeinten Nationalstaat begründeten. Letzterem wird die Aufgabe zugeschrieben, die im Prinzip harmonische Volksgemeinschaft zu beschützen und ihr Wohl zu mehren. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d. h. die Ungleichung von staatlich definiertem Allgemeinwohl einerseits und dem Wohl der lohnabhängigen Mehrheit andererseits führt zur permanenten Verurteilung der Volksvertreter_innen als Volksverräter_ innen. Und sie führt andererseits zum Gene ral­verdacht gegenüber allen, die nicht zum Volk gehören – dem Ausland und den Ausländer_innen. Sofern die Flüchtenden weder zur Volksgemeinschaft gehören und noch nicht einmal der Volkswirtschaft dienen, weil sie nichts verdienen (dürfen), erfüllen sie alle Bedingungen, um zur Zielscheibe des „gesunden Volksempfindens“ und seines „Volkszorns“ zu werden. Dies ist nicht nur, aber besonders in Ostdeutschland der Fall, wo der verbreitete Glaube an die beglückende Wirkung einer erweiterten Bundesrepublik, ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung und ihrer Währung (immerhin die Verheißungen der Wiederwiedervereinigung) seit 25 Jahren aufs Härteste mit den ganz anders gearteten Erfahrungen im real-existierenden Kapitalismus kollidiert … Im Kampf gegen die renitenten Nationalist_innen im eigenen Volk, die sich dem neuen Patriotismus in Zeiten von „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“ mit ihrem „Nein zum Heim“ widersetzen, greifen die Offiziellen der Bundesrepublik zu den üblichen Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsstrategien oder schreiten gleich wie Vizekanzler Gabriel zu ihrer Diffamierung als „Pack“ und der Verurteilung ihrer Gesinnung als „undeutsch“. Statt einer Kritik der volkswirtschaftlichen und nationalstaatlichen Dogmen beanspruchen große und kleine Volkserzieher_innen die Definitionshoheit über deren zeitgemäße Auslegung. Kein Wunder also, dass sich die regierenden Patriot_innen im Kampf gegen den unerwünschten Nationalismus in Teilen ihres Volkes so schwer tun!
 
Autor
Arian Schiffer-Nasserie ist Professor für Sozial-und Migrationspolitik sowie Rassismusforschung an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum.
 
Kontakt: schiffer-nasserie@efh-bochum.de


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